vorgestellt von Thomas Ax
- Einem Gemeinderat steht ein organschaftliches Abwehrrecht gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung aus § 32 Abs. 3 GemO in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue zu, wenn Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds ihm gegenüber den Tatbestand der groben Ungebühr nach § 36 Abs. 3 Satz 1 GemO erfüllen oder als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören (Fortführung von Senat, Beschl. v. 08.12.1987 – 1 S 325/86 -, EKBW GemO § 36 E 9).
- Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Neutralitätspflicht eines Bürgermeisters im Verhältnis zu politischen Parteien und zum Sachlichkeitsgebot als allgemeiner Grenze der Äußerungsbefugnis bei öffentlichen Äußerungen eines kommunalen Amtsträgers in amtlicher Eigenschaft ist auf Redebeiträge eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, nicht anwendbar.
- Zur Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit eines Bürgermeisters im Rahmen seiner Leitungsfunktion und einer politischen Teilnahme am Meinungskampf kommt es auf die konkreten Umstände der streitgegenständlichen Äußerung an (Anschluss an BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 -, juris Rn. 56; Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 -, juris Rn. 119; VerfGH Rh.-Pf., Beschl. v. 21.05.2014 – VGH A 39/14 -, juris Rn. 25).
- Maßgeblich sind dabei – aus Sicht eines verständigen Bürgers – der konkrete Inhalt der Aussage und ihr Gesamtkontext. Zu berücksichtigen sind u.a. der äußere Rahmen der Aussage, eine etwaige Inanspruchnahme der Autorität des Amts und der Einsatz von mit dem Amt verbundenen Ressourcen (Anschluss an BVerfG, Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 -, juris Rn. 125; Urt. v. 09.06.2020 – 2 BvE 1/19 -, juris Rn. 58 f.; Urt. v. 27.02.2018 – 2 BvR 1/16 -, juris Rn. 66; VerfGH Rh.-Pf., Beschl. v. 21.05.2014 – VGH A 39/14 -, juris Rn. 25). Nur wenn nach außen hinreichend deutlich erkennbar ist, dass der Bürgermeister bei einer Äußerung nicht in Wahrnehmung seiner Leitungskompetenz im Gemeinderat handelte, liegt eine davon zu unterscheidende Stellungnahme im politischen Meinungskampf vor.
- Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, unterliegt dieser den für alle Gemeinderatsmitglieder geltenden Einschränkungen.
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2022 – 1 S 2686/21
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts … vom 25. März 2021 – 4 K 3145/20 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass eine ihn betreffende Äußerung des Beklagten in der Sitzung des Gemeinderats von F. vom 26.05.2020 rechtswidrig gewesen ist.
Der Kläger ist Mitglied des Gemeinderats der Stadt F. und gehört dort der Gruppierung …an. Der Beklagte ist Oberbürgermeister der Stadt F.
Die Geschäftsordnung des Gemeinderats der Stadt F… vom 18.10.1977 in der Fassung vom 26.05.2020 bestimmt u.a.:
“§ 11
Redeordnung
(…)
(2) (…) Der Vorsitzende kann nach jedem Redner das Wort ergreifen und dem Berichterstatter oder einem Beschäftigten der Stadt sowie einem zugezogenen Sachverständigen außer der Reihe das Wort erteilen.
(…)
(3) Die Redezeit für eine Fraktion bzw. Fraktionsgemeinschaft mit 8 und mehr Mitgliedern beträgt in der ersten Runde einer Sachdebatte längstens 8 Minuten; für eine Fraktion bzw. Fraktionsgemeinschaft mit 5 und mehr Mitgliedern längstens 6 Minuten und für die übrigen Fraktionen und Fraktionsgemeinschaften längstens 4 Minuten sowie für Gruppierungen und Einzelstadträt_innen längstens 3 Minuten. Ab der zweiten Runde der Sachdebatte und in einer Geschäftsordnungsdebatte beträgt die Redezeit für alle Fraktionen, Fraktionsgemeinschaften und Gruppierungen längstens 3 Minuten. Ausnahmen können bei Bedarf im Ältestenrat festgelegt werden.
(…)
(5) Zum gleichen Gegenstand darf ein Stadtrat nur mit Zustimmung des Gemeinderats mehr als zweimal sprechen.
(6) Außer der Reihe und sofort nach dem Redner, der zuletzt gesprochen hat, erteilt der Vorsitzende einem Stadtrat das Wort
(…)
- b) zur Geschäftsordnung
(…)
§ 14
Reihenfolge der Abstimmung über Anträge
(…)
(4) Anträge auf “Vertagung” kommen zuerst zur Abstimmung, sodann sonstige Anträge zur Geschäftsordnung.
(…)”
Der aktuelle Gemeinderat von F. wurde am 26.05.2019 gewählt. Nach dem daraus resultierenden Kräfteverhältnis der Fraktionsgemeinschaften und sonstiger Gruppierungen im Gemeinderat wurden die Ausschüsse, Beiräte und andere Gremien gebildet und besetzt. Nachdem im Januar 2020 zwei Stadträte ihre Fraktionen wechselten und sich hierdurch die Kräfteverhältnisse im Gemeinderat änderten, beantragte die Fraktion der …… die Neubesetzung der betroffenen Gremien des Gemeinderats. In den Ältestenratssitzungen vom 04.02.2020 und 03.03.2020, an denen der Kläger als Vertreter seiner Gruppierung teilnahm, wurde die Notwendigkeit einer Gremien-Neubesetzung erörtert und das weitere Vorgehen besprochen. In der zweiten Ältestenratssitzung äußerte der Kläger, dass er eine Neubesetzung der Gremien nicht für notwendig erachte, da die bisherige Sitzverteilung den ursprünglichen Wählerwillen abbilde. Ob er einem entsprechenden Beschlussantrag für seine Gruppierung zustimmen werde, behielt er sich vor.
In der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses am 18.05.2020, an der der Kläger ebenfalls teilnahm, wurde die seitens der Verwaltung des Oberbürgermeisters erarbeitete Beschlussvorlage vorberaten. Wortmeldungen gab es keine. Der Ausschuss verwies den Tagesordnungspunkt zur Neubesetzung von Gremien zur abschließenden Entscheidung in den Gemeinderat.
In der Gemeinderatssitzung vom 26.05.2020 rief der Beklagte den Tagesordnungspunkt 6 “Neubesetzung von gemeinderätlichen Ausschüssen, Gremien und Organen der Gesellschaften mit städtischer Beteiligung” auf. Daraufhin stellte der Kläger einen Antrag auf Absetzung des Tagesordnungspunktes und führte dazu aus:
“(…) Herr …, geschätzte Kollegen, wir beantragen die Absetzung dieses Tagesordnungspunktes. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die gemeinderätlichen Ausschüsse neu zu besetzen. In der Tat bin ich erstaunt, dass dieser Punkt überhaupt auf die Tagesordnung kommt. Hieß es doch in den virtuellen Sitzungen während der Corona -Krise, dass die allerwichtigsten Vorhaben in den nächsten Sitzungen behandelt werden sollen, also die wichtigsten. Darunter verstehe ich z.B. dringende Bauvorhaben oder Finanzplanungen in der Krise. Stattdessen beschäftigen wir uns wieder mit uns selbst und hauen später noch Millionen raus, als ob es kein Morgen gäbe. Erst wird einer Oppositionsgruppierung die Redezeit in unverschämter Art und Weise gekappt und jetzt sollen wegen eines Stühlchen-Wechsel-Spiels ausgerechnet …xx einen unangemessenen Zugewinn an Ausschussposten bekommen. Warum, konnte mir bisher keiner erklären, aber vielleicht schafft es ja einer von Ihnen in den kommenden Redebeiträgen. Ihre Aufgabe ist die Folgende: Erklären Sie einem unbeteiligten Dritten, warum …x künftig in allen Ausschüssen, allen wichtigen 16er Ausschüssen 30 % der Sitze haben. Das bei einem Wahlergebnis von 26,5 %. Gleichzeitig geht der Anteil der Ausschüsse von …x …x mit einem Wahlergebnis von 4,5 % herunter auf 0. Sie erklären mir, warum das gerecht ist und der Bürger auf der Straße sich nicht verarscht vorkommen soll, wenn wir hier solche Spielchen treiben. Sie haben zwischen vier und maximal acht Minuten Redezeit. Der Gewinner bekommt dann meine Stimme nachher. Zurück zum Thema. Herr …x soll alle Ausschussposten verlieren, …xxx bekommen an die 15 Sitze hinzu. Warum bitteschön? Weil Frau Kollegin …x ihre Wähler verschaukelt, das ist ihr gutes Recht, kommt ja immer wieder mal vor, und zu den …… geht. Gleichzeitig wechselte Frau …x in die xxx-Fraktion und als Resultat dieses Wechsels soll nun Herr …xx leer ausgehen, mit Ausnahme von ein paar Brosamen, die …x ihm großzügig hingeworfen haben. Und xxx …x kommen in allen Ausschüssen mit 16 Sitzen auf 30 %. Ich verstehe das nicht und ich glaube, die Leute da draußen verstehen es auch nicht und die … wird das nicht mittragen. Notwendig ist es, wie ich einleitend schon gesagt habe, auch nicht. Dieser Gemeinderat ist in seiner Zusammensetzung unverändert. Alle gewählten Vertreter nehmen ihre Verantwortung wahr. Darüber hinaus wurden die Ausschüsse im September in dem Verhältnis besetzt, die die Gemeinderatswahl ergeben hat. So soll es aus unserer Sicht auch bleiben. Deshalb möchten wir, dass dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt wird (…).”
Der Beklagte entgegnete:
“Vielen Dank, Herr …x, ich glaube Gegenrede formal. Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis. Wir stimmen über Ihren Absetzungsantrag ab.”
Der Kläger forderte den Beklagten noch in der Sitzung auf, seine Aussage zurückzunehmen, was dieser nicht tat. Nach weiteren Wortbeiträgen des Klägers, des Beklagten und anderer Gemeinderatsmitglieder stimmte der Gemeinderat schließlich über den Absetzungsantrag des Klägers ab. Dieser fand keine Mehrheit.
Mit Schreiben vom 18.06.2020 forderte der Kläger den Beklagten auf, seine Aussage, dass er “lediglich über ein eingeschränktes Demokratieverständnis verfüge”, bis spätestens zum 29.06.2020 zurückzunehmen und dies auch gegenüber den übrigen Gemeinderatsmitgliedern in der nächsten Gemeinderatsitzung kundzutun.
In der Gemeinderatsitzung vom 30.06.2020 forderte der Kläger den Beklagten erneut auf, seine “Entgleisung” aus der letzten Sitzung zu widerrufen, was dieser nicht tat.
Der Kläger hat am 01.10.2020 Klage erhoben, mit der er die Feststellung begehrt hat, dass die Äußerung des Beklagten “Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis.” rechtswidrig gewesen sei. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Äußerung des Beklagten als grober Verstoß gegen die den Beklagten in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister treffende Verpflichtung zur Sachlichkeit und Neutralität darstelle. Er habe in der Sitzung vom 26.05.2020 in seiner Eigenschaft als Ratsmitglied einen zulässigen Antrag auf Absetzung des Tagesordnungspunktes 6 gestellt. Diesen Antrag habe der Beklagte mit der streitgegenständlichen Äußerung kommentiert und damit in seine Rechtsstellung als Gemeinderatsmitglied, insbesondere in sein Rede- und Antragrecht, eingegriffen. Dem Beklagten stehe kein “Gegenrecht auf Kommentierung” zu. Der Beklagte habe durch seine Äußerung, die in einem untrennbaren Sinnkontext mit seinem Absetzungsantrag stehe, den Eindruck erweckt, die Antragstellung sei zu Unrecht erfolgt oder unvernünftig. Mit der Unterstellung eines “eingeschränkten Demokratieverständnisses” sei ein persönliches Unwerturteil verbunden. Er habe daher unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitation ein Feststellungsinteresse. Ein solches sei auch im Hinblick auf eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu bejahen. Denn die streitgegenständliche Äußerung sei geeignet, sich abträglich auf sein Ansehen in der Öffentlichkeit auszuwirken. Da sich der Beklagte in unmittelbarer Ausübung der ihm als Oberbürgermeister zustehenden Leitungsfunktion in einer Gemeinderatssitzung geäußert habe, könne er sich nicht auf ein Recht zur individuellen Meinungsäußerung berufen. Auch ein Oberbürgermeister könne zwar am politischen Meinungskampf teilnehmen und Stellungnahmen abgeben. Wenn er dies tue, sei er aber an das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot gebunden. Gegen das Neutralitätsgebot habe der Beklagte mit seiner Äußerung in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung verstoßen. Auch das Sachlichkeitsgebot sei verletzt. Dieses verlange, dass Tatsachenbehauptungen zutreffend seien und Werturteile nicht auf sachfremde Erwägungen gestützt würden. Werturteile müssten auf einem im Wesentlichen zutreffenden oder zumindest vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen und dürften den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten. Die Äußerung des Beklagten werde diesen Anforderungen nicht gerecht, weil sie sich ersichtlich auf seine innere Einstellung zur Demokratie beziehe und damit ins Persönliche gehe.
Der Beklagte ist dem Begehren des Klägers entgegen getreten und hat im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Kläger im Rahmen eines Organstreitverfahrens nicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen könne. Eine im Organstreitverfahren rügbare Verletzung des Rede- und Antragsrechts als Gemeinderatsmitglied scheide von vornherein aus, da der Kläger in der Gemeinderatssitzung vom 26.05.2020 zu Wort gekommen sei, seinen Absetzungsantrag habe stellen können und über diesen im Gremium auch entschieden worden sei. Durch seine Erwiderung sei das Rede- und Antragsrecht des Klägers somit nicht verkürzt worden. Eine in diesem Verfahren rügbare Verletzung der Neutralitätspflicht oder des Sachlichkeitsgebots scheide zwar nicht von vorneherein aus, liege aber im Ergebnis nicht vor. Denn er habe sich nicht in Ausübung seiner hoheitlichen Aufgabe als Sitzungsleitung geäußert, sondern sich unter Wahrnehmung seines kommunalpolitischen Mandats als ordentliches und stimmberechtigtes Ratsmitglied an einer politischen Debatte im Gemeinderat beteiligt und eine Gegenrede zu den Äußerungen des Klägers gehalten. Als Oberbürgermeister komme ihm eine Doppelrolle zu: Er sei sowohl Amtsträger und nehme in dieser Funktion hoheitliche Aufgaben wahr, als auch ordentliches und stimmberechtigtes Ratsmitglied mit einem besonderen kommunalpolitischen Mandat. Dass er seinen Beitrag mit “Gegenrede formal” eingeleitet habe, zeige bereits, dass er hierbei nicht seine hoheitliche Funktion der Sitzungsleitung ausgeübt, sondern inhaltlich auf den Wortbeitrag des Klägers entgegnet und sich mithin in eine laufende politische Debatte eingebracht habe. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass er in hoheitlicher Funktion gehandelt habe, bewege sich die beanstandete Äußerung (“eingeschränktes Demokratieverständnis”) jedenfalls noch innerhalb dessen, was rechtlich zulässig sei. Außerhalb eines Wahlkampfes sei die Äußerung allenfalls am Sachlichkeitsgebot zu messen. Dieses biete Schutz vor staatlichen Äußerungen, die geeignet seien, sich abträglich auf das Bild der betroffenen Person in der Öffentlichkeit auszuwirken. Amtliche Äußerungen müssten sich an den allgemeinen Grund- sätzen für rechtsstaatliches Verhalten in der Ausprägung des Willkürverbots und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes orientieren. Aus dem Willkürverbot folge insbesondere, dass Werturteile auf einem sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen müssten. Diese Anforderungen seien hier gewahrt.
Mit Urteil vom 25. März 2021 hat das Verwaltungsgericht …x die Klage abgewiesen. Die Klage sei als Feststellungsklage zulässig. Der Kläger sei auch klagebefugt, weil es zumindest möglich sei, dass der Kläger aus seinem Rede- und Antragsrecht sowie seinen sonstigen Mitwirkungsrechten im Gemeinderat einen Anspruch darauf habe, von herabwürdigenden und unsachlichen Äußerungen des Beklagten in einer öffentlichen Sitzung des Gemeinderates verschont zu bleiben. Dies könne im Umkehrschluss aus dem Sachlichkeitsgebot folgen, dem der Beklagte nach einem Teil der Rechtsprechung unterliege. Zudem sei in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass Gemeinderatsmitglieder gegenüber Störungen während einer Gemeinderatssitzung ein organschaftliches Abwehrrecht zustehen könne. Die Klage sei jedoch unbegründet. Es könne offenbleiben, ob ein organschaftliches Abwehrrecht eines Ratsmitglieds gegenüber unsachlichen und/oder herabwürdigenden Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung dem Grunde nach tatsächlich bestehe. Denn selbst wenn ein solches Recht bestehen würde, wäre es hier nicht verletzt, weil die beanstandete Äußerung des Beklagten die Grenzen des rechtlich Zulässigen gewahrt habe. Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung fände die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot staatlicher Organe bei amtlichen Äußerungen keine Anwendung. Bei der Wahrnehmung seines Rederechts unterliege der Bürgermeister denselben rechtlichen Grenzen wie alle anderen Gemeinderäte. Danach müsse der Bürgermeister eine Äußerung in diesem Rahmen nur dann unterlassen, wenn sie den Tatbestand der “groben Ungebühr” im Sinne des § 36 Abs. 3 Satz 1 GemO erfülle oder als “Formalbeleidigung” oder als “Schmähkritik” zu qualifizieren sei. Diese Grenze habe der Beklagte mit seiner Äußerung nicht überschritten, weil die beanstandete Äußerung als Reaktion auf den Redebeitrag des Klägers erfolgt sei, in dem dieser die geplante Neubesetzung von Ausschüssen und Gremien mit scharfen Worten kritisiert habe. Es habe für den Beklagten ein nachvollziehbarer Anlass bestanden, auf die Kritik des Klägers zu reagieren. Mit der Formulierung “eingeschränktes Demokratieverständnis”, die bei verständiger Würdigung als persönlicher Generalvorwurf gegenüber dem Kläger zu verstehen sein dürfte, habe der Beklagte zwar zweifellos den Rahmen der strikten Sachlichkeit (vgl. § 11 Abs. 4 Satz 2 GO) verlassen. Dies falle angesichts dessen, dass bereits der vorangegangene Redebeitrag des Klägers in Teilen unsachlich und insgesamt provokant gewesen sei, aber weniger ins Gewicht. Der Beklagte könne ein Recht auf Gegenrede und auch ein Recht auf angemessenen “Gegenschlag” dergestalt für sich in Anspruch nehmen, dass er auf unsachliche Kritik in gleicher Weise reagieren dürfe. Die Äußerung des Beklagten stelle bei Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere des Gesamtzusammenhangs, in dem die beanstandete Formulierung (“eingeschränktes Demokratieverständnis”) gefallen sei, keine Formalbeleidigung oder Schmähkritik dar. Denn der Beklagte habe ersichtlich einen Streit um die Anwendung “demokratischer Spielregeln” zum Anlass genommen, um dem Kläger ein “eingeschränktes Demokratieverständnis” vorzuwerfen.
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren aus der ersten Instanz weiter. Er macht im Wesentlichen geltend, dass jedes amtliche Handeln dem Sachlichkeitsgebot unterfalle. Dieses Gebot habe der Beklagte nicht beachtet und damit gegen den Grundsatz der Intraorgantreue verstoßen. Dabei habe der Beklagte in Wahrnehmung seiner Funktion als Oberbürgermeister gehandelt, weil seine Äußerung im Zusammenhang mit einem Abstimmungsantrag zu TOP 6 erfolgt sei und der Beklagte bei seiner Äußerung nicht zum Inhalt des zur Abstimmung stehenden TOP 6 Stellung genommen habe. Außerhalb seiner Stellung als Oberbürgermeister könne der Beklagte nur bei Abstimmungen oder Sachdebatten handeln. Auch in diesen Fällen müsse der Maßstab für Äußerungen des Bürgermeisters strenger sein, als bei den Gemeinde- oder Stadträten. Zudem habe der Beklagte gesprochen, während er auf seinem Bürgermeisterstuhl gesessen habe. Es sei daher nicht hinreichend klar geworden, dass der Beklagte nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion habe handeln wollen. Der Geschäftsordnungsantrag des Klägers sei ein nach der Geschäftsordnung des Gemeinderats zulässiges Verhalten gewesen. Daher habe für die Äußerung des Beklagten kein Anlass bestanden. Für einen Gegenschlag sei ein Schlag nötig, den es jedoch nicht gegeben habe. Der Beklagte habe den Kläger mit seiner Äußerung abgekanzelt und als außerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehend bezeichnet. Dies sei keine sachbezogene und neutrale Handlung gewesen. Für eine derartige Äußerung bestehe auch kein allgemeiner Brauch bei der Sitzung von Kommunalparlamenten. Die vom Verwaltungsgericht herangezogene Doppelfunktion des Oberbürgermeisters vermöge nicht zu begründen, weswegen die zum Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot entwickelten Grund-sätze nicht einschlägig seien. Vielmehr seien diese Grundsätze angesichts des Themas, das erörtert worden sei, in verstärktem Maße anzuwenden. Nach den Worten “Gegenrede formal” sei die Gegenrede bezüglich des Geschäftsordnungsantrags des Klägers beendet gewesen. Die hiernach folgende Äußerung sei eine weitere und somit unzulässige Gegenrede des Beklagten gewesen. Zudem habe der Beklagte zwar ein Rederecht, jedoch kein Recht zur individuellen Meinungsäußerung oder einem Gegenschlag.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts …x vom 25. März 2021 – 4 K 3145/20 – zu ändern und festzustellen, dass die Äußerung des Beklagten in der Gemeinderatssitzung der Stadt F… vom 26.05.2020 “Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis.” rechtswidrig war.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, die Berufung sei zulässig, jedoch nicht begründet. Weder das allgemeine Sachlichkeitsgebot für die staatliche Informations- und Öffentlichkeitsarbeit noch ein Recht auf eine sachliche Äußerung während einer öffentlichen Gemeinderatssitzung in der Form eines organschaftlichen Abwehrrechts seien einschlägig, weil er sich nicht als Oberbürgermeister, sondern als Mitglied des Gemeinderates geäußert habe. Denn er habe sich nicht in hoheitlicher Funktion unter Zugriff auf seine ihm gerade als Vorsitzenden zukommende Rechte der Sitzungsleitung geäußert. Dies ergebe sich hinreichend deutlich aus dem Sitzungsprotokoll. In diesem Fall könnten die zuvor genannten Grundsätze nicht gelten, weil dies sonst zu einer unzulässigen Verkürzung seines freien Mandats und hierbei insbesondere seines Rederechts führen würde. Nichts Anderes ergebe sich daraus, dass er sich von seinem Platz und nicht vom Rednerpult aus geäußert habe. Denn es sei üblich, dass sich die Mitglieder des Gemeinderats in F. von ihren jeweiligen Sitzplätzen aus äußern würden. Nur in außergewöhnlichen Situationen – wie bei der Haushaltseinbringung- und -verabschiedung – werde vom Rednerpult aus gesprochen. Die für alle Mitglieder des Gemeinderats geltenden Grenzen bei Äußerungen habe er eingehalten. Für strengere Maßstäbe gebe es keine Grundlage in der Gemeindeordnung. Seine Entgegnung auf die Äußerung des Klägers stelle keine grobe Ungebühr oder Schmähkritik dar. Auch unsachliche Äußerungen eines Ratsmitglieds könnten noch vom Rederecht gedeckt sein, wenn sie sich als Reaktion auf vorausgegangene Vorwürfe oder Provokationen darstellten. Dementsprechend gebe es im Gemeinderat ein Recht auf Gegenrede und auch ein Recht auf angemessenen “Gegenschlag” dergestalt, dass ein Ratsmitglied auf unsachliche Kritik in gleicher Weise reagieren dürfe. Seine Äußerung sei gemessen an diesen Maßstäben nicht grob ungebührlich gewesen und insbesondere nicht als Schmähkritik zu qualifizieren. Denn er habe in zulässiger Art und Weise auf eine scharfe Provokation des Klägers reagiert und hierdurch die Beschlussvorlage der Stadtverwaltung gegen die Angriffe des Klägers verteidigt. Aus der Intraorgantreue könnten sich keine weitergehenden Abwehrrechte gegen Äußerungen von Gemeinderatsmitgliedern ergeben, soweit diese keine Rechtswirkungen nach außen hätten. Eine inhaltliche Gegenrede auf einen Antrag zur Tagesordnung sei überdies nicht ausgeschlossen, sondern genau wie in einer Sachdebatte zulässig. Ein Rederecht stehe den Mitgliedern des Gemeinderats auch außerhalb von Sachdebatten zu. Weder die Gemeindeordnung noch die Geschäftsordnung regele die Gegenrede. Es gebe vielmehr nur das Rederecht. Daher gebe es auch keinen feststehenden Unterschied zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Gegenrede. Der Ausspruch “Gegenrede formal” werde im Gemeinderat F. genutzt, um anzuzeigen, dass inhaltlich eine gegensätzliche Auffassung vertreten, die zur Zeitersparnis nicht im Einzelnen begründet werde. Die Gegenrede formal diene der zeitlichen Verkürzung der Debatte, ohne auf eine eindeutige Positionierung zu verzichten. Der Ausspruch “Gegenrede formal” führe jedoch nicht dazu, dass das Rederecht hiernach verbraucht sei.
Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts und des Beklagten vor.
Gründe
- Die Berufung ist nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaft und auch sonst zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim Verwaltungsgericht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 VwGO). Die Berufungsbegründungsschrift wurde form- und fristgemäß beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 2 VwGO) und entspricht auch inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen (bestimmter Antrag, ausreichende Begründung; vgl. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO).
- Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Feststellungsklage statthaft und zulässig, jedoch unbegründet ist.
- Die Klage ist als Feststellungsklage statthaft.
- a) Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass es sich um einen sogenannten kommunalverfassungsrechtlichen Organstreit handelt. Denn der Kläger begehrt in seiner Eigenschaft als Gemeinderatsmitglied und unter Berufung auf organschaftliche Mitwirkungsrechte im Gemeinderat die Feststellung, dass die ihn betreffende Äußerung des Beklagten in der Gemeinderatssitzung vom 26.05.2020 rechtswidrig gewesen sei, weil dieser hierdurch die ihm obliegende Pflicht zur Sachlichkeit und Neutralität verletzt habe. Die Beteiligten streiten somit unmittelbar über Bestand und Reichweite zwischen-organschaftlicher Rechte und Pflichten (vgl. Senat, Urt. v. 02.08.2017 – 1 S 542/17 -, juris Rn. 35).
Das Verwaltungsgericht hat ebenfalls zu Recht festgestellt, dass die Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart ist. Diese ist vorliegend auch nicht gemäß § 43 Abs. 2 VwGO gegenüber einer Gestaltungs- oder Leistungsklage subsidiär. Denn dem Kläger geht es nicht darum, ein künftiges Unterlassen des Beklagten zu fordern. Vielmehr möchte der Kläger festgestellt haben, dass eine Äußerung des Beklagten rechtswidrig gewesen sei, weil dem Beklagten kein Recht zu dieser Äußerung zugestanden habe. Für dieses Begehren ist jedoch nur die Feststellungsklage als statthaft anzusehen, sodass es keine vorgehende Gestaltungs- oder Leistungsklage gibt, hinter die die Feststellungsklage zurücktreten könnte.
- Die Klage ist auch zulässig.
- a) Dem Kläger steht dabei insbesondere auch eine Klagebefugnis gemäß § 42 2 VwGO analog zu. Denn der Kläger behauptet substantiiert eine Verletzung in einer ihm als Gemeinderatsmitglied möglicherweise zustehenden organschaftlichen Rechtsposition (vgl. Senat, Urt. v. 24.02.1992 – 1 S 2242/91 -, juris Rn. 13).
Da sich der Kläger ausdrücklich auf seine Stellung als Gemeinderatsmitglied beruft, ist für einen auf Grundrechte gestützten öffentlich-rechtlichen Unterlassungs- oder Folgenbeseitigungsanspruch zwar kein Raum mehr. Denn auf Organteile öffentlich-rechtlicher Gebietskörperschaften sind die Grundrechte ihrem Wesen nach nicht anwendbar, soweit sich diese Organteile – wie hier – auf ihren kommunalverfassungsrechtlichen Status berufen (vgl. Senat, Urt. v. 24.02.1992 – 1 S 2242/91 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 01.09.1992 – 1 S 506/92 -, juris Rn. 2 und v. 04.11.1993 – 1 S 953/93 -, juris Rn. 4, wonach Gemeindeorgane oder Organteile beim Kommunalverfassungsstreit über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten; so auch Sächs. OVG, Beschl. v. 02.06.2009 – 4 B 287/09 – juris Rn. 25; BVerfG, Beschl. v. 06.12.2009 – 1 BvR 802/00 -, juris Rn. 13).
Allerdings hat der Kläger als Mitglied des Gemeinderats möglicherweise einen Anspruch darauf, von herabwürdigenden und unsachlichen Äußerungen des Beklagten verschont zu bleiben (vgl. Sächs. OVG, Beschl. v. 02.06.2009 – 4 B 287/09 -, juris Rn. 14). Dieses Recht könnte aus dem freien Mandat des Klägers gemäß § 32 Abs. 3 GemO in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue folgen. Denn herabwürdigende und unsachliche Äußerungen des Beklagten gegenüber dem Kläger könnten dazu führen, dass der Kläger gegenüber den übrigen Stadträten in ein schlechtes Licht gerückt wird und deshalb sein Mandat nicht mehr effektiv ausüben könnte. Es ist daher anerkannt, dass Gemeinderatsmitgliedern gegenüber Störungen während einer Gemeinderatssitzung, die sie bei der Ausübung ihrer Mitwirkungsbefugnisse beeinträchtigen bzw. ihnen die Erfüllung ihrer Aufgabe erschweren, ein organschaftliches Abwehrrecht zustehen kann, sog. “innerorganisatorischer Unterlassungs- und Störungsbeseitigungsanspruch” (vgl. Engel/Heilshorn, Kommunalrecht BW, 11. Aufl., § 17 Rn. 27 und Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 711).
- b) Es liegt zudem das erforderliche Feststellungsinteresse gemäß § 43 1 VwGO vor. Denn der Kläger gehört dem Gemeinderat der Stadt F… weiterhin an, so dass das feststellungsfähige Rechtsverhältnis im Zeitpunkt der Entscheidung fortbesteht und sich eine vergleichbare Situation unter im Wesentlichen gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen jederzeit wiederholen kann (vgl. Senat, Urt. v. 11.10.1995 – 1 S 1823/94 -, juris Rn. 27).
- Die Klage ist jedoch nicht begründet.
Dem Kläger steht als Stadtrat grundsätzlich ein organschaftliches Abwehrrecht gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung aus § 32 Abs. 3 GemO in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue zu, wenn Äußerungen eines Ratsmitglieds den Tatbestand der groben Ungebühr gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 GemO erfüllen oder als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören (a). In Bezug auf den Beklagten gilt vorliegend kein anderweitiger Maßstab, weil er sich nicht in Ausübung seiner (hoheitlichen) Leitungsfunktion, sondern unter Wahrnehmung seines Rederechts als Mitglied des Gemeinderats geäußert hat (b). Dabei hat der Beklagte die Grenzen seiner Äußerungsbefugnis nicht überschritten (c).
- Gemäß § 32 Abs. 3 Satz 1 GemO entscheiden die Gemeinderäte im Rahmen der Gesetze nach ihrer freien, nur durch das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung. Aus dem sogenannten freien Mandat folgt das Rede- und Antragsrecht des Gemeinderats. Der Grundsatz der Organtreue wiederum wurzelt in dem verfassungsrechtlichen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme sowie in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben und ist auch auf das Verhältnis zwischen kommunalen Organen und Organteilen übertragbar (vgl. Senat, Beschl. v. 27.06.2011 – 1 S 1509/11 -, juris Rn. 34 und v. 06.12.2012 – 1 S 2408/12 -, juris Rn. 11; so auch OVG NRW, Beschl. v. 19.08.2011 – 15 A 1555/11 -, juris Rn. 16). Hieraus folgt ein Abwehranspruch gegenüber rechtswidrigen Störungen, die eine ungeschmälerte Ausübung der Mitwirkungsbefugnisse des Gemeinderats vereiteln (so auch OVG NRW, Urt. v. 27.07.1990 – 15 A 709/88 -, juris Rn. 2 bis 4). Eine derartige Störung liegt bei Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds vor, wenn die Äußerungen den Tatbestand der groben Ungebühr erfüllen, als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören (vgl. Senat, Beschl. v. 08.12.1987 – 1 S 325/86 -, EKBW GemO § 36 E 9). Denn in diesen Fällen wird die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Gemeinderates in einer rücksichtslosen und treuwidrigen Art und Weise vereitelt. Da das freie Mandat in Verbindung mit dem Grundsatz der Organtreue ein wehrfähiges Organrecht darstellt (vgl. Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 711; Engel/Heilshorn, Kommunalrecht BW, 11. Aufl., § 17 Rn. 27; Sächs. OVG, Urt. v. 06.07.2021 – 4 A 691/20 -, juris Rn. 23), kann sich der Kläger auch auf dieses berufen.
- Anders als der Kläger annimmt, gilt im Hinblick auf den Abwehranspruch nicht deswegen ein anderer Maßstab, weil der Beklagte der Oberbürgermeister der Gemeinde ist. Denn die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Neutralitätspflicht eines Bürgermeisters im Verhältnis zu politischen Parteien und zum Sachlichkeitsgebot als allgemeiner Grenze der Äußerungsbefugnis bei öffentlichen Äußerungen eines kommunalen Amtsträgers in amtlicher Eigenschaft ist auf Redebeiträge eines Bürgermeisters in einer Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, nicht anwendbar.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind das Neutralitätsgebot gegenüber politischen Parteien und im Übrigen das Sachlichkeitsgebot dann anwendbar, wenn sich ein Amtsträger in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion äußert. Denn dem Amtsträger ist eine lenkende oder steuernde Einflussnahme auf den politischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung verwehrt (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2017 – 10 C 6.16 – juris Rn. 24 und 28). Selbiges gilt für den Bundeskanzler sowie die Minister einer Regierung, soweit diese in Wahrnehmung ihres Amtes handeln (vgl. BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 -, juris Rn. 38 ff.; Urt. v. 27.02.2018 – 2 BvE 1/16 -, juris Rn. 61; Urt. v. 09.06.2020 – 2 BvR 1/19 -, juris Rn. 53 und Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 -, juris Rn. 84 ff.; wohl a. A. NdsStGH, Urt. v. 24.11.2020 – 6/19 -, juris Rn. 91 ff. und BerlVerfGH, Urt. v. 20.02.2019 – 80/18 -, LKV 2019, 120, 121). Das Neutralitätsgebot und das Sachlichkeitsgebot sind somit nur dann anzuwenden, wenn sich ein Bürgermeister in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion äußert.
Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, handelt es sich jedoch nicht um Äußerungen, die der Bürgermeister in Wahrnehmung seiner hoheitlichen Funktion tätigt. Denn dem Bürgermeister kommt im gemeindlichen Kompetenzgefüge eine Doppelrolle zu. Er ist zum einen gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 GemO der Leiter der Gemeindeverwaltung und Vorsitzender des Gemeinderats. Zum anderen ist er gemäß § 25 Abs. 1 und §§ 46 ff. GemO ein von den Bürgern direkt gewähltes Gemeinderatsmitglied mit einem kommunalpolitischen Mandat (vgl. Kunze/Bonner/Katz, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 25 Rn. 1 und Aker, in: ders./Hafner/Notheis, GemO Bad.-Württ., 2. Aufl. 2019, § 25 Rn. 1). Deshalb hat er neben der Leitung der Verwaltung auch eine originär politische Funktion wahrzunehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2017, a.a.O., Rn. 18). Als Mitglied des Gemeinderats kommt ihm damit gemäß § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1, 37 Abs. 1 GemO ein Rederecht zu (Senat, Beschl. v. 04.11.1993 – 1 S 953/93 -, juris Rn. 7).
Zur Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit des Bürgermeisters im Rahmen seiner Leitungsfunktion und einer politischen Teilnahme am Meinungskampf kommt es auf die konkreten Umstände der streitgegenständlichen Äußerung an (vgl. BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 -, juris Rn. 56; Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 -, juris Rn. 119; VerfGH Rh.-Pf., Beschl. v. 21.05.2014 – VGH A 39/14 -, juris Rn. 25). Maßgeblich sind dabei – aus Sicht eines verständigen Bürgers – der konkrete Inhalt der Aussage und ihr Gesamtkontext. Zu berücksichtigen sind dabei u.a. der äußere Rahmen der Aussage, eine etwaige Inanspruchnahme der Autorität des Amts und der Einsatz von mit dem Amt verbundenen Ressourcen (vgl. BVerfG, Urt. v. 15.06.2022 – 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20 -, juris Rn. 125; Urt. v. 09.06.2020 – 2 BvE 1/19 -, juris Rn. 58 f.; Urt. v. 27.02.2018 – 2 BvE 1/16 -, juris Rn. 66; VerfGH Rh.-Pf., Beschl. v. 21.05.2014 – VGH A 39/14 -, juris Rn. 25). Nur wenn nach außen hinreichend deutlich erkennbar ist, dass der Bürgermeister bei einer Äußerung nicht in Wahrnehmung seiner Leitungskompetenz im Gemeinderat handelte, liegt eine davon zu unterscheidende Stellungnahme im politischen Meinungskampf vor. Denn der verständige Bürger nimmt auch in Kenntnis des Umstands, dass dem Bürgermeister eine Doppelrolle zukommt, diesen häufig als obersten Repräsentanten und Vertreter der Gemeinde und damit im Zweifel als Inhaber des Amts des Bürgermeisters, nicht als bloßes Mitglied des Gemeinderats wahr.
Der Beklagte hat nach diesen Maßstäben sein Rederecht nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion ausgeübt. Denn aus Sicht eines verständigen Bürgers ist anhand des konkreten Inhalts der Aussage und ihrem Gesamtkontext nach hinreichend deutlich erkennbar, dass die Äußerung des Beklagten nicht in Wahrnehmung seiner Leistungsfunktion erfolgte.
Anhand der Sätze “Vielen Dank, Herr …, ich glaube Gegenrede formal. Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis. Wir stimmen über Ihren Absetzungsantrag ab.” ist für einen verständigen Bürger hinreichend deutlich erkennbar, dass der Beklagte zunächst zur Gegenrede von seinem Rederecht nach § 11 Abs. 2 Satz 8 der Geschäftsordnung des Gemeinderats Gebrauch gemacht hat. Denn der Ausspruch “Gegenrede formal” wird im Gemeinderat …-…x genutzt, um anzuzeigen, dass inhaltlich eine gegensätzliche Auffassung vertreten wird, die zur Zeitersparnis nicht im Einzelnen begründet wird. Hiernach erfolgte die hier streitgegenständliche kurze inhaltliche Ergänzung der Gegenrede. Erst danach wollte der Beklagte mit den Worten “Wir stimmen über Ihren Absetzungsantrag ab.” zur Abstimmung über den Antrag des Klägers gemäß § 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung übergehen.
Die kurze inhaltliche Ergänzung der Gegenrede des Beklagten war auch nicht deswegen unzulässig, weil seine Gegenrede nach den Worten “Vielen Dank, Herr …, ich glaube Gegenrede formal. …” als formale Gegenrede zwingend abgeschlossen gewesen wäre. Denn in der Geschäftsordnung des Gemeinderats der Stadt F… gibt es die Unterscheidung zwischen formaler und inhaltlicher Gegenrede nicht. Es gibt nur das Rederecht, das in § 11 der Geschäftsordnung geregelt ist. Hierin finden sich nur zeitliche Begrenzungen des Rederechts bei Geschäftsordnungs- und Sachdebatten in § 11 Abs. 3 der Geschäftsordnung sowie die Begrenzung, dass ein Stadtrat zum gleichen Gegenstand nur mit Zustimmung des Gemeinderats mehr als zweimal sprechen darf (vgl. § 11 Abs. 5 der Geschäftsordnung). Diese Begrenzungen wurden vorliegend jedoch nicht überschritten. Daher blieb es dem Beklagten unbenommen, zunächst formal eine Gegenrede anzubringen und hiernach ergänzend kurz inhaltlich auf die vorangehende Äußerung des Klägers einzugehen. Eine derartige Gegenrede hätte auch jeder Stadtrat anbringen können. Denn nach § 11 Abs. 6 Buchstabe b der Geschäftsordnung erteilt der Vorsitzende einem Stadtrat zur Geschäftsordnung außer der Reihe und sofort nach dem Redner, der zuletzt gesprochen hat, das Wort. Da es sich bei dem Antrag des Klägers um einen Geschäftsordnungsantrag gehandelt hat, hätte somit jeder Stadtrat eine derartige Gegenrede halten können. Auch dieser Umstand zeigt, dass der Beklagte von seinem Rederecht außerhalb seiner Leitungsfunktion Gebrauch gemacht hat. Eine spezifische Inanspruchnahme der Autorität des Amts und der mit dem Amt verbundenen Ressourcen erfolgte hier nicht.
Daraus, dass der Beklagte seine Gegenrede von seinem besonderen Sitzplatz als Vorsitzender des Gemeinderats aus gehalten hat, ergibt sich nichts anderes. Denn der Beklagte hat nachvollziehbar dargelegt, dass es im Gemeinderat der Stadt F… üblich ist, dass sich die Mitglieder des Gemeinderats von ihren jeweiligen Sitzplätzen aus äußern. Nur in außergewöhnlichen Situationen – wie bei der Haushaltseinbringung und -verabschiedung – werde vom Rednerpult aus gesprochen. Eine derartige außergewöhnliche Situation sei am 26.05.2020 beim Tagesordnungspunkt 6 nicht gegeben gewesen.
Da der Beklagte seinen Redebeitrag nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt hat, war er folglich nicht an das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot staatlicher Organe bei amtlichen Äußerungen gebunden. Vielmehr unterlag er im Hinblick auf sein Rederecht als Mitglied des Gemeinderats den diesbezüglich für alle Gemeinderatsmitglieder allgemein geltenden Einschränkungen. Denn das organschaftliche Rederecht besteht nur in den Grenzen der gemeindlichen Aufgabenzuständigkeit und nur nach Maßgabe der den Ablauf der Ratssitzungen regelnden Verfahrensbestimmungen der Gemeindeordnung und der jeweiligen Geschäftsordnung des Gemeinderats (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.02.1988 – 7 B 123.87-, juris Rn. 6). Ein Gemeinderatsmitglied muss dabei Äußerungen unterlassen, die den ordnungsgemäßen Sitzungsablauf stören. Dies ist der Fall, wenn die Äußerungen den Tatbestand der groben Ungebühr gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 GemO erfüllen, als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören (vgl. Senat, Beschl. v. 08.12.1987 – 1 S 325/86 – und Urt. v. 04.03.1993 – 1 S 2349/92 -, juris Rn. 14 ff.). Ob ein Redebeitrag diese Grenzen überschreitet, lässt sich nicht allgemein, sondern nur aufgrund der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilen (vgl. Senat, Urt. v. 04.03.1993 – 1 S 2349/92 -, juris Rn. 15). Hierbei ist kein übertrieben empfindsamer Maßstab anzulegen. Aufgabe des Gemeinderates ist es, die divergierenden Vorstellungen seiner Mitglieder im Wege der Rede und Gegenrede und der nachfolgenden Abstimmung zu einem einheitlichen Gemeindewillen zusammenzuführen. Der Widerstreit der unterschiedlichen politischen Positionen lebt dabei nicht zuletzt von Debatten, die mit Stilmitteln wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik geführt werden (Senat, Urt. v. 04.03.1993 – 1 S 2349/92 -, juris Rn. 15 und Sächs. VerfGH, Urt. v. 03.12.2010 – Vf.16-I-10 -, juris Rn 45). Bei der Beurteilung der Äußerung ist nicht diese allein, sondern der gesamte Verlauf der Sitzung und hierbei insbesondere der Zusammenhang zu berücksichtigen, in dem die Äußerung gefallen ist. Wenn die beanstandete Äußerung eines Ratsmitglieds eine Reaktion auf persönliche Vorwürfe oder auf Provokationen eines anderen Sitzungsteilnehmers darstellt, so wird selbst ein unsachliches Verhalten regelmäßig als weniger schwerwiegend zu bewerten sein (vgl. Senat, Urt. v. 04.03.1993 – 1 S 2349/92 -, juris Rn. 15).
Für die Forderung des Klägers, dass der Beklagte auch dann strengeren als den zuvor dargestellten Maßstäben unterliegen müsse, wenn er außerhalb der Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung rede, findet sich in der Gemeindeordnung ebenso wenig eine Grundlage, wie für die Forderung, Reden bei Geschäftsordnungsanträgen und Reden bei Sachdebatten insoweit unterschiedlich zu behandeln. Auch aus dem Neutralitätsgebot oder dem Sachlichkeitsgebot lassen sich solche Folgerungen nicht ableiten. Das Neutralitätsgebot und das Sachlichkeitsgebot wurzeln vor allem im Rechtsstaatsprinzip, im Willkürverbot und im Verhältnismäßigkeitsprinzip und binden daher gerade den Amtsträger (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2017 – 10 C 6.16 -, juris Rn. 27). Da – wie dargelegt – der Bürgermeister sich auf die Grundsätze für Äußerungen im politischen Meinungskampf nur stützen kann, wenn nach außen hinreichend deutlich ist, dass er bei einer Äußerung im Gemeinderat nicht seine Leitungskompetenz im Gemeinderat ausübt, gebietet auch der Schutz anderer politischer Akteure vor zugespitzten Äußerungen eines Bürgermeisters nicht die Erstreckung der für amtliche Äußerungen des Bürgermeisters geltenden Grenzen auf dessen Äußerungen im politischen Meinungskampf.
- Nach diesem Maßstäben hat die Äußerung des Beklagten die Grenzen, die für Redebeiträge eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung außerhalb von dessen Leitungsfunktion gelten, nicht überschritten. Hierbei ist – wie es das Verwaltungsgericht zu Recht angemerkt hat – beachtlich, dass sich die beanstandete Äußerung des Beklagten als Reaktion auf den Redebeitrag des Klägers darstellte, in dem dieser die geplante Neubesetzung von Ausschüssen und Gremien mit scharfen Worten kritisiert hat. Denn mit seiner der Bemerkung des Beklagten vorangehenden Äußerung erweckte der Kläger den Eindruck, dass die Neubesetzung bestimmter Gremien und Ausschüsse nach einer Änderung der Kräfteverhältnisse im Gemeinderat wie vorliegend geschehen mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Zugleich implizierte der Kläger hierdurch, dass die von der Stadtverwaltung auf der Grundlage eines Antrags der Fraktion ……x erarbeitete Beschlussvorlage ebenfalls demokratischen Grundsätzen widerspreche. Die daraufhin gefallene Äußerung des Beklagten “Vielen Dank, Herr …, ich glaube Gegenrede formal. Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis.” nimmt hierauf Bezug und äußert Enttäuschung darüber, dass der Kläger aus Sicht des Beklagten nicht verstanden habe, dass nach einer Änderung des Kräfteverhältnisses im Gemeinderat auch eine Anpassung der Kräfteverhältnisse in den Gremien und Ausschüssen erfolgen sollte, und gab als möglichen Grund ein eingeschränktes Demokratieverständnis an. Damit enthält die Aussage des Beklagten zwar ein negativ wertendes Element gegenüber dem Kläger. Angesichts des vorangegangene Redebeitrags des Klägers, der sich auch gegen die Beschlussvorlage der Stadtverwaltung richtete, sowie zugespitzt und insgesamt provokant war, fällt diese negative Wertung allerdings weniger ins Gewicht.
Es handelte sich zudem nicht um eine unsachliche Äußerung gegenüber dem Kläger, die nicht zum Beratungsgegenstand gehörte, weil sich der Beklagte gerade auf die vorangegangenen Ausführungen des Klägers bezog und auf sie erwiderte. Eine grobe Ungebühr liegt in der Aussage des Beklagten ebenfalls nicht. Denn an die Annahme einer grob ungebührlichen Äußerung sind strenge Maßstäbe anzulegen. Die Grenzen des Erträglichen müssen erheblich überschritten sein (vgl. Senat, Urt. v. 04.03.1993 – 1 S 2349/92 -, juris Rn. 15) Dabei ist die Grenze zur groben Ungebühr jedenfalls dann überschritten, wenn sich eine Äußerung als Formalbeleidigung oder als Schmähung darstellt (vgl. Aker, in: ders./Hafner/Notheis, Kommentar zur Gemeindeordnung und Gemeindehaushaltsverordnung Baden-Württemberg, 2. Auflage 2019, § 36 Rn. 8). Eine überzogene oder gar ausfällige Kritik an anderen Sitzungsteilnehmern oder Dritten macht eine Äußerung für sich genommen allerdings noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nimmt diesen Charakter vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.02.2017 – 1 BvR 2973/14 -, juris Rn. 14). Nach diesen Maßstäben liegt in der Äußerung weder eine grobe Ungebühr noch eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung. Vielmehr bezog sich der Beklagte auf die vorangehende provokante Äußerung des Klägers und kritisierte diese, indem er dem Kläger mangelndes Verständnis “vielleicht” aufgrund eines eingeschränkten Demokratieverständnisses unterstellte. Damit hat der Beklagte die Auseinandersetzung in der Sache nicht verlassen, sondern sich in überspitzter Weise mit der vorangehenden Äußerung des Klägers auseinandergesetzt.
Ob es – wie es das Verwaltungsgericht annimmt – ein generelles Recht auf angemessenen “Gegenschlag” dergestalt gibt, dass ein Ratsmitglied auf unsachliche Kritik in gleicher Weise reagieren darf, kann der Senat im Ergebnis offenlassen. Denn jedenfalls in der vorliegenden Konstellation wurden die Grenzen der Äußerung in einer öffentlichen Sitzung des Gemeinderats durch den Beklagten eingehalten.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
- Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.
Beschluss vom 3. November 2022
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.